17.09.2014 / komba gewerkschaft

Bertelsmann Studie belegt: 120.000 Fachkräfte in Kitas fehlen, um erforderliche Betreuungsqualität zu sichern

Vorsitzende des Fachbereichs Sozial- und Erziehungsdienst, Sandra van Heemskerk, im Interview mit Anette Stein, Direktorin des Programmbereich Wirksame Bildungsinvestitionen der Bertelsmann Stiftung unter anderem über Bildungsqualität, Fachkräftemangel und Bundes-Kita-Gesetz

Der Trend zur besseren Bildung in Deutschland bereits ab dem Kleinkindalter ist nach wie vor ungebrochen. In den Kindertagesstätten (Kita) ist der Inklusionsgedanke fest verankert und ein gemeinsames Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten Alltag. Doch mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige mussten die Aufnahmekapazitäten zusätzlich deutlich erhöht werden. Dabei wurde der Quantität zu oft Vorrang vor der Qualität eingeräumt. Die Leidtragenden dabei sind neben den Kindern die Erzieherinnen und Erzieher, die vielerorts nicht mehr wissen, wie sie ihre Aufgaben noch stemmen sollen.

Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung belegt, dass es in deutschen Kitas viel zu wenig hochwertig ausgebildete Fachkräfte gibt. Für eine angemessene Betreuung müssten bundesweit 120.000 zusätzliche Vollzeitstellen geschaffen werden. Zudem werden von der Stiftung bundesweit geltende Qualitätsstandards für Kitas gefordert, da der Rechtsanspruch nur einen Betreuungsplatz sicher stellt und damit ausschließlich die Quantität betrifft. Kinder und faire Bildungschancen bräuchten aber vor allem eine gute Qualität und bessere Personalschlüssel in nahezu allen Bundesländern, so die Studie. Die komba gewerkschaft setzt sich schon seit vielen Jahren in den unterschiedlichen politischen Gremien unter anderem für bessere Rahmenbedingungen, Bezahlung, Gesundheitsschutz und für eine Attraktivitätssteigerung des Berufsbildes der Erzieherinnen und Erzieher ein. Die Idee der Einführung eines Bundes-Kita-Gesetzes unterstützt die Gewerkschaft für Beschäftigte im öffentlichen Dienst und geht dabei noch einen Schritt weiter: auch die Ausbildungsstandards müssen bundesweit angeglichen werden.
 
Die Vorsitzende des Fachbereichs Sozial- und Erziehungsdienst, Sandra van Heemskerk, im Interview mit Anette Stein, Direktorin des Programmbereich Wirksame Bildungsinvestitionen der Bertelsmann Stiftung, unter anderem über Bildungsqualität, Fachkräftemangel und Bundes-Kita-Gesetz:

Sandra van Heemskerk:
Wie sehen bundesweit die Betreuungsverhältnisse in den Kitas aus?
Anette Stein: Die Qualität in der frühkindlichen Bildung bleibt derzeit in Deutschland oft auf der Strecke. Die Personalschlüssel in Kitas weichen teilweise erheblich von einem kindgerechten und pädagogisch notwendigen Betreuungsverhältnis ab. Zudem gibt es enorme regionale Unterschiede. Deutlich zeichnet sich ein Ost-West-Gefälle ab. Im Krippenbereich gibt es Spannbreiten von gut 3 bis fast 7 Kleinkindern, für die eine/ein Erzieherin/Erzieher zuständig ist. Ähnlich sieht die Situation bei Kindern ab 3 Jahren aus. Je nach Bundesland ist eine Fachkraft hier für 8 bis zu 15 Kindern verantwortlich.

S. v. H.: Wie kann der Anspruch nach einer guten frühkindliche Bildung in Deutschland qualitativ hochwertig ausgebaut werden?
A.S.: Eine gute Kindertageseinrichtung bedeutet gute Bildungschancen. Und die dürfen nicht davon abhängig sein, wo ein Kind lebt. Wir brauchen gemeinsame und verbindliche Qualitätsstandards in ganz Deutschland. Notwendig ist eine Qualitätsoffensive, an der sich neben Ländern, Kommunen und Trägern auch der Bund beteiligt. Hierzu benötigen wir ein Bundes-Kita-Gesetz.
Der fachpolitische Diskurs über den Ausbau von Qualität sollte faktenbasiert erfolgen. In einem ersten Schritt haben wir daher die Reformkosten für bessere Betreuungsrelationen kalkuliert. Für die Personalschlüssel empfehlen wir, dass eine/ein Erzieherin/Erzieher lediglich für 3 Krippenkinder zuständig ist. Bei den über Dreijährigen sollten es rechnerisch nicht mehr als 7,5 Kinder sein. Diese Relationen sind erforderlich, wenn außer Betreuung auch Bildung stattfinden soll. Das zeigen wissenschaftliche Studien. Unsere Empfehlungen berücksichtigen, dass im Kita-Alltag die pädagogischen Fachkräfte einen Teil ihrer Arbeitszeit für andere Aufgaben benötigen als für die direkte Arbeit mit Kindern. Dabei kann eine/ein Erzieherin/Erzieher höchstens 75 Prozent ihrer Arbeitszeit für pädagogische Arbeit nutzen. Die übrige Zeit benötigt sie für andere Aufgaben wie zum Beispiel Elterngespräche, Teamsitzungen, Fortbildungen oder die Kooperation mit Grundschulen. Das bedeutet zusammen mit Urlaub und Krankheit, dass bei einem Personalschlüssel von 1 zu 7,5 eine Vollzeitkraft in der Praxis für 10 Ganztagskinder zuständig ist.

S.v.H.: Für den bereits angesprochenen, erforderlichen Qualitätsausbau fehlen 120.000 Erzieherinnen und Erzieher. Woher sollen Ihrer Meinung nach so viele Fachkräfte rekrutiert werden?
A.S.: Dieser zusätzliche Personalbedarf entsteht bei flächendeckend guten Personalschlüsseln. Ein solcher Qualitätsausbau müsste stufenweise erfolgen und das erforderliche Personal über unterschiedliche Wege gewonnen werden. Die Fachschulen haben bereits im Rahmen des U3-Ausbaus gezeigt, dass sie Ausbildungskapazitäten entsprechend erhöhen können, wenn Bedarf und Nachfrage besteht. Im Rahmen einer gemeinsamen Qualitätsoffensive müsste ein Ausbauplan vereinbart werden, der dabei auch die Ausbildungssysteme berücksichtigt. Zudem wechselt derzeit nahezu jede/r vierte Erzieherin oder Erzieher nach erfolgreichem Abschluss in Berufsfelder jenseits von Kindertageseinrichtungen. Hier müsste entsprechend geworben werden – auch durch attraktivere Rahmenbedingungen als sie heute bestehen. Weiteres Potenzial liegt in dem enorm hohen Anteil von Teilzeitkräften in Kindertageseinrichtungen. Die Anzahl der in Vollzeit beschäftigen Erzieherinnen und Erzieher sinkt seit Jahren in fast allen Bundesländern. Hier gilt es gezielt gegen zu steuern.

S.v.H.: Welche Vorschläge haben Sie, um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken?
A.S.: Seit 2006 gab es in den Kindertageseinrichtungen einen Personalzuwachs von 40 Prozent, so die Statistiken. Aktuelle Studien kommen zu dem Schluss, dass derzeit bundesweit gesehen kein Fachkräftemangel besteht. Regional jedoch unterscheidet sich aber auch hier die Situation vor Ort von den statistischen Angaben: Einige Kommunen haben erheblich Probleme bei der Stellenbesetzung. Diese können sich in den kommenden Jahren insbesondere in den westlichen Bundesländern verschärfen, da hier deutlich mehr Personen in Rente gehen werden als in den zurückliegenden Jahren. Angesichts des notwendigen Qualitätsausbaus sowie dem wachsendem Bedarf für Ganztagsbetreuung, müssen weiterhin vielfältige Strategien zur Personalgewinnung genutzt werden: in der Ausbildung, der Rückgewinnung und Bindung pädagogischer Fachkräfte. Hierzu bedarf es insbesondere auch besserer Rahmenbedingungen für die Arbeit von Erzieherinnen und Erzieher wie zum Beispiel Gehalt, Gruppengröße beziehungsweise Personalschlüssel, Fortbildung und Supervision.

S.v.H.: Welche Regelungen sollte Ihrer Meinung das von Ihnen geforderten Bundes-Kita-Gesetz beinhalten?
A.S.: Die Politik kann über ein solches Gesetz vor allem die notwendigen Strukturen für eine bundesweit gute Bildungsqualität sichern. Dabei gibt es gibt vier Kernbereiche, die besonders wichtig sind: Neben Personalschlüsseln sind das die Zeitbudgets für Leitungsaufgaben, Qualitätskriterien für Fort- und Weiterbildung, Fachberatung sowie die Mittagsverpflegung.
Die Finanzierung entsprechender Standards bedeutet einen enormen Kraftakt, den die meisten Bundesländer und Kommunen alleine kaum stemmen können. Erforderlich ist daher eine gemeinsame Qualitätsoffensive, bei der sich auch der Bund finanziell stärker beteiligt. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt, in einem Bundes-Kita-Gesetz festzulegen, für welchen bundesweit einheitlichen Standard der Bund welche finanzielle Unterstützung leistet. Über Länderfonds könnte der Bund zusätzliche Mittel gezielt in einen stufenweisen Qualitätsausbau investieren und die Entwicklung anhand der jährlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik beobachten.

S.v.H.: Für viele junge Menschen und dabei besonders Männer ist der Beruf der/des Erzieherin/Erziehers nicht erstrebenswert? Warum - was meinen Sie?
A.S.: Wir haben die Situation, dass einerseits viele den Erzieherberuf als eine spannende, sehr erfüllende und verantwortungsvolle Aufgabe bewerten. Andererseits würden viele dem eigenen Kind von diesem Berufsweg eher abraten, da er bei hohen Belastungen finanziell wenig verspricht. Diesem Widerspruch sollte mit attraktiveren Arbeitsbedingungen und angemessener Entlohnung begegnet werden. Wichtig ist, die professionelle Weiterentwicklung der Fachkräfte zu stärken und transparent zu machen. Es muss noch deutlicher werden, wie anspruchsvoll das Anforderungsprofil und wie verantwortungsvoll die Aufgaben der Erzieherinnen und Erzieher sind.

S.v.H.: Wenn Sie Verhandlungsführer in der kommenden Tarifrunde im Sozial-und Erziehungsdienst wären, was wären Ihre Forderungen für die Fachkräfte in den Kitas?
A.S.: Neben höheren Gehältern, die denen vergleichbarer pädagogischer Berufe entsprechen, sind aus meiner Sicht vor allem bessere Rahmenbedingungen für die Arbeit wichtig. Angemessene Honorierung bedeutet auch, dass Erzieherinnen und Erzieher ausreichende Zeitkontingente für ihre Aufgaben jenseits der pädagogischen Arbeit gewährt werden.  

S.v.H.: Vielen Dank für das Gespräch.

Kurzprofil Anette Stein:

  • Direktorin des Programms Wirksame Bildungsinvestitionen
  • Mitglied im Führungskreis der Bertelsmann Stiftung
  • seit 18 Jahren in der Bertelsmann Stiftung in nationalen und internationalen Bildungsprojekten tätig
  • seit über 10 Jahren verantwortlich für den Bereich frühkindliche Bildung, den sie aufgebaut hat
  • bis 1996 kommunale Angestellte im Bereich Bildung und Bibliotheken – davon einige Monate in Frankreich
  • Persönliche Daten: 49 Jahre, 1 Tochter, geboren in Bonn


Kurzprofil Sandra van Heemskerk:

  • Erzieherin in der Kita Kinderinsel (Gatherskamp) und Personalrätin bei der Stadt Mönchengladbach
  • Vorsitzende des Bundesfachbereich Sozial- und Erziehungsdienst der komba gewerkschaft
  • seit 14 Jahren für den Bereich Sozial - und Erziehungsdienst in den unterschiedlichen Gremien der komba gewerkschaft sowie politisch aktiv
  • Mitglied in der Bundestarifkommission des dbb beamtenbund und tarifunion und damit Vertreterin der komba gewerkschaft, besonders für die Mitglieder aus dem Sozial- und Erziehungsdienst, bei den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst
  • Persönliche Daten: 39 Jahre, verheiratet, 1 Sohn, geboren in Mönchengladbach


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